Katrin Bandel
Religiosität in den Romanen von drei indonesischen Schriftstellerinnen
"Religiositas dalam Novel Tiga Pengarang Perempuan", erschienen als Vorwort zu Ani Sekarningsihs Roman Memburu Kalacakra, Yogyakarta 2004


"Alles, was sich mit Religion oder Politik beschäftigt, Angriffe gegen Personen oder Gruppen sowie Verletzungen gegen die Regeln der Höflichkeit und des Anstands darstellt, wird ebenso wie alles, was unsittliche Gefühle erregt, auf keinen Fall angenommen" (zitiert nach Jedamski 1992: 214). Diese Warnung ist Teil eines Aufrufs in den Zeitschriften Pandji Poestaka und Kedjawen, beide herausgegeben vom Kantoor voor de Volkslectuur alias Balai Pustaka, der sich an Schriftsteller richtete, die ihre Texte dieser das Verlagswesen dominierenden kolonialen Institution anzubieten gedachten. Neben Religion, Politik und Sexualität tabuisierte das Balai Pustaka auch alles "Abergläubische", etwa den Mystizismus, den Geisterglauben und die indigene Medizin.
Das bedeutet jedoch nicht, daß in den vom Balai Pustaka der Kolonialzeit veröffentlichen Romanen Gott vollständig abwesend wäre. Doch werden die Besonderheiten der Religionen, denen die Romanfiguren angehören, meist nicht betont, so daß Gott zu einem gewissermaßen universalen Konzept wird. Obwohl zum Beispiel die meisten Balai-Pustaka-Autoren wie auch ihre Romanfiguren Muslime sind, werden konkrete Formen des islamischen Glaubens wie etwa die täglichen Gebete, das Fasten, das Koranrezitieren, Predigten in der Moschee, Gespräche über die Lehren des Islam und ähnliches so gut wie nie behandelt. Explizit wird die Ansicht, alle Religionen seien sich im Grunde gleich, von der Figur Ahmad Maulanas in Sitti Nurbaya geäußert, einer der "Vorbildfiguren" de Romans: "Meiner Ansicht nach ist keine Religion schlecht, sie sind alle gut, weil sie alle lautere Ziele verfolgen und sich an den einen und einzigen Gott richten."
Seit der Unabhängigkeit Indonesiens haben in der Literaturpolitik natürlich erhebliche Veränderungen stattgefunden. Aber obwohl Texte entstanden sind, die sich stark von den Veröffentlichungen des Kantoor voor de Volkslectuur unterscheiden, sind die Werte, die durch die koloniale Literaturpolitik eingepflanzt wurden, nicht einfach verschwunden. Die Aufruhr um die Darstellung von Sexualität in den Romanen einiger Schriftstellerinnen in den letzten Jahren verweist z.B. deutlich darauf, daß sich Ansichten des Balai Pustaka - daß nur "sittliche" literarische Texte, d.h. solche, in denen es nicht um Sex geht, als "ernsthafte" Literatur gelten können - bis heute gehalten haben. Um zurück zum Thema Religion zu kommen: Natürlich erinnern wir uns an den Fall der Erzählung "Langit Makin Mendung" von Kipanjikusmin, aufgrund derer HB Jassin als Chefredakteur der Zeitschrift Sastra, die die Erzählung 1968 abdruckte, wegen Beleidigung der islamischen Religion vor Gericht gestellt wurde. Obwohl es relativ viele Texte gibt, die sich als "religiöse Literatur" definieren lassen in dem Sinne, wie es Goenawan Mohamad versteht, nämlich als Texte, in denen "religöses Leben als Problemlösung" dargestellt wird (Goenawan Mohamad 1982: 137), illustriert der Fall Kipanjikusmis, daß mit der kritischen Darstellung von Religion ein Risiko verbunden ist. Obwohl das Tabu der Darstellung von Religion, wie es für die kolonialen Balai-Pustaka-Romane galt, nicht mehr in dieser Form besteht, läßt sich ein Zurückschrecken vor der Behandlung kontroverser religiöser Themen feststellen. Insbesondere findet man selten Texte, die eine bestimmte Religion kritisieren oder religiöse Konflikte darstellen, seien es Konflikte zwischen Anhängern verschiedener Religionen oder seelische Konflikte einzelner. Dies ist im Grunde erstaunlich, wenn man bedenkt, welch eine wichtige Rolle Religion und Spiritualität im Alltag der meisten Indonesier spielen.
Die Scheu indonesischer Autoren, Religiosität in ihren Texten zu thematisieren, scheint in den letzten Jahren abgenommen zu haben. Insbesondere in einigen von Frauen geschriebenen Romanen ist Religiosität ein wichtiges oder gar das zentrale Thema. Im folgenden werde ich mich mit vier Romanen beschäftigen, die zwischen 2001 und 2004 erschienen sind, nämlich den beiden Episoden von Dees Supernova (2001 und 2002), Tujuh Musim Setahun von Clara Ng (2002) und Memburu Kalacakra von Ani Sekarningsih (2004).
Wie in Ahmad Maulanas Ausspruch in Sitti Nurbaya, begegnet uns auch in Ani Sekarningsihs Memburu Kalacakra die Überzeugung, daß die grundlegenden Werte aller Religionen gleich sind, wenn der Gottesdienst auch auf unterschiedliche Weise praktiziert wird. Was diesen Roman von vielen vor ihm unterscheidet, ist, daß diese Überzeugung hier nicht etwas ist, wovon a priori ausgegangen wird und was als nicht weiter zu thematisieren angesehen wird. Im Gegenteil, diese Überzeugung entsteht aus den Reflexionen der Protagonistin Arleta über verschiedene Religionen und Glaubensformen, die ausführlich als Teil ihrer Gedankenwelt oder ihrer Gespräche mit anderen widergegeben werden. In anderen Worten, dieser Roman erweckt nicht den Anschein, als bestünden in Indonesien keine Probleme mit der Religion, sondern er greift gerade die bestehenden Probleme auf, würdigt die Existenz einer Vielzahl religiöser Lehren im Umfeld der Protagonistin, und bringt eine tolerante und gleichzeitig kritische Haltung vor.
Obwohl Religiosität nicht das einzige Thema dieses Romans ist, ist die spirituelle Suche Arletas das Hauptthema. Diese Suche findet statt, indem die Protagonistin sich durch Lesen, Lernen und durch Konsultation mit in bestimmten spirituellen Lehren kundigen Menschen Wissen über verschiendenste religiöse und philosophische Lehren aneignet. Dieses theoretische Wissen bringt sie dann in Verbindung mit ihren Lebenserfahrungen, so daß es Teil ihres Alltags wird. Die spirituelle Suche führt zudem zu einigen mystischen Erlebnissen, die weitere Wegweiser für sie werden.
Auch in dem Roman Supernova: Akar ist die spirituelle Suche der Figuren das Hauptthema. In Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh (der ersten Supernova-Episode) und Tujuh Musim Setahun unternehmen die Figuren zwar keine intensive spirituelle Suche, wie es Arleta in Memburu Kalacakra tut, dennoch werden spirituelle Konzepte als entscheidend für das Verständnis ihrer Lebenswege dargestellt. Im folgenden werde ich einige Hauptzüge von Arletas Religiosität in Memburu Kalacakra besprechen, um dann Vergleiche mit den Romanen von Dee und Clara Ng anzustellen.
"Seelische Erfahrung ist Privatsache des einzelnen," ("Pengalaman batin adalah urusan pribadi masing-masing,") erklärt Arleta. Sie begreift spirituelle Erfahrung als etwas, das im Herzen und im Bewußtsein eines Menschen geschieht und somit nicht von außen beurteilt werden kann. "Gläubigkeit", die äußerlich vor anderen gezeigt wird, ist keinerlei Garantie dafür, daß jemand im eigentlichen Sinne religiös ist. Verwendet man ein konventionelles religiöses Verständnis, kann man sagen, daß Arleta wiederholt religiösen Lehren zuwider handelt, also "sündigt" oder "von rechten Glauben abfällt": Unter anderem hat sie vorehelichen Sex und heiratet einen Mann anderer Religionszugehörigkeit, einen balinesischen Hindu. Aber ihre eigene seelische Erfahrung entspricht nicht dieser Wertung: Ihr Verhalten, mit dem sie niemandem schadet, empfindet sie nicht als einen "Fehler", sondern als wichtigen Teil ihres Lebensweges und ihrer spirituellen Suche.
Ähnliche Elemente finden sich auch in Supernova und Tujuh Musim Setahun. Insbesondere sexuelle Tabus, die Teil der meisten religiösen Doktrinen sind, sind in diesen Romanen nicht mehr vollständig gültig. Ein recht extremes Beispiel ist in Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh zu finden: Diva alias Supernova, die spirituelle Lehrerin (avatar), die ein umfassendes Wissen besitzt und eine hohe Bewußtseinsstufe erreicht hat, so daß sie andere Menschen "in die richtige Bahn lenken" kann, verdient ihr Geld als Prostituierte.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß für diese Romanfiguren Moral überhaupt keine Rolle mehr spielt. Arleta äußert sich z.B. enttäuscht darüber, daß es in Indonesien an Menschlichkeit und Nächstenliebe sehr fehle, obwohl die Mehrheit der Indonesier sich als "religiös" verstehe. Und Arletas Entscheidung am Ende des Romans, als Lehrerin in eine abgelegene Gegend Indonesiens zu gehen, ist selbstredend in ihrem Willen begründet, durch Dienst an anderen Gutes zu tun. Nur sind die moralischen Werte, an die Arleta glaubt, sehr individuell und nicht vollends von einer Institution außerhalb ihrer selbst bestimmt, etwa von dem in der Gesellschaft dominanten Religionsverständnis.
Ein weiteres Merkmal von Arletas spriritueller Suche ist, daß ihre Erfahrungen sich nicht auf die normativen Lehren einer der indonesischen "Pancasila-Religionen" beschränken, sondern daß sie Anregungen von anderen Formen der Spiritualität aufnimmt. Dasselbe gilt auch für Supernova und Tujuh Musim Setahun. Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh verwendet Konzepte aus der Physik, während die zweite Episode (Akar) auf den Buddhismus verweist, wenn auch nur oberflächlich. In Tujuh Musim Setahun bildet der christliche Glauben die Basis, aber Vorstellungen aus der chinesischen Philosophie, dem Zen-Buddhismus und aus anderen Quellen werden zusätzlich aufgenommen. Die in Memburu Kalacakra zu findenden Elemente sind noch pluraler, unter anderem javanische Philosophie, Tarot, Reiki, New Age und fast alle Weltreligionen neben der islamischen Religion, der Arleta angehört.
Arleta ist nicht nur der Ansicht, daß es von Vorteil sei, "jede Lehre als Quelle von Wahrheit zu akzeptieren, einschließlich nicht-muslimischer Lehren" ("menerima semua ajaran sebagai sumber kebenaran, termasuk yang datang dari luar Islam", 198), sie äußert außerdem, daß die Auslegung religiöser Lehren an veränderte Gegebenheiten angepaßt werden sollte, denn "der Islam ist nicht ein lebloses Monument, das im 7. Jahrhundert geschaffen wurde und gegen geschichtliche Entwicklung immun sein muß" ("Islam bukanlah sebuah monumen mati yang dipahat indah pada abad 7 Masehi sehingga tabu disentuh tangan sejarah", 226). Diese Ansichten Arletas sowie die pluralen oder neuen spirituellen Lehren, die in den anderen genannten Romanen zu finden sind, weisen auf ein Gefühl der Unzufriedenheit mit den offiziellen religiösen Institutionen hin. Konventionelle religiöse Lehren erscheinen als tendenziell unflexibel und dogmatisch, so daß sie den Romanfiguren in Alltagssituationen nicht viel weiterhelfen können. In Tujuh Musim Setahun z.B. wird das Konzept der "Sünde" in einem Gespräch der Figuren Lara und Iris über eine außereheliche Beziehung verwendet, doch es wird deutlich, daß die Verurteilung einer solchen Beziehung als "Sünde" keine Lösung des Problems darstellt und die bestehenden Gefühle der Liebe für einen verheirateten Mann nicht auslöschen kann (184).
Eine Szene in Tujuh Musim Setahun ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Nachdem sie durch einen Unfall schwer verletzt wurde, liegt Nura im Krankenhaus fünf Jahre lang im Koma, bevor sie schließlich stirbt. Ihre Familie geht mit ihrem Tod auf religiöse Weise um, d.h. die geht davon aus, Nuna sei nun "im Himmel" ("sudah pergi ke sorga", 127). Doch Nunas Verlobter Nata läßt sich durch eine solche Erklärung nicht zufriedenstellen. Nata reagiert mit einer sehr individuellen seelischen Erfahrung: Er sieht Nuna zu einem Schmetterling werden, der seinen Kokon (den leblos zurückbleibenden Körper) verläßt. Obwohl diese Erfahrung Natas von Menschen in seiner Umgebung nicht verstanden werden kann und ihn schließlich gar in den Selbstmord treibt, läßt sich sagen, daß Natas Vision den fünf letzten Lebensjahren Nunas, während derer denen sie mit Hilfe medizinischer Geräte am Leben erhalten wurde, einen Sinn gibt. Indem er diese Jahre scheinbar inhaltlosen Lebens als die Zeit versteht, in der Nuna in ihrem Kokon "mit der Vorbereitung beschäftigt war, schön zu werden" ("mempersiapkan diri untuk menjadi cantik", 128), verschwindet das Gefühl der Sinnlosigkeit. Eine solche Sinngebung ist mit einer normhaften religiösen Erklärung nicht möglich, denn wenn man Nunas Tod damit erklärt, Gott habe sie zu sich gerufen, wie kann man dann die Jahre erklären, die sie in einem Zustand zwischen Leben und Tod verbracht hat? Wenn Nuna stirbt, weil ihre (von Gott zugeteilte) Zeit auf Erden eben abgelaufen ist, warum muß der Tod dann so lange herausgezögert werden? Und wenn der Tod verstanden wird als ein Entweichen der Seele aus dem Körper, wo ist dann Nunas Seele während der fünf Jahre, in denen nur ihr Körper zu existieren scheint?
Diese Szene in Tujuh Musim Setahun ist ein Beispiel dafür, wie sich das Leben manchmal als derart komplex und verwickelt entpuppt, daß religiöse Dogmen keine zufriedenstellenden Erklärungen und Lösungen bieten können. In diesem Fall entsteht die Komplexität vor allem dadurch, daß die moderne Medizin es ermöglicht, einen Menschen auch in einem sehr kritischen Zustand relativ lange am Leben zu erhalten, so daß die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt wird. Arletas Kritik in Memburu Kalacakra, daß die Religionen sich zu wenig an Veränderungen anpassen und zu dogmatisch sind, scheint hier äußerst relevant.
Auffällig ist bei Arletas spiritueller Suche ihre kritische Haltung gegenüber den Lehren, mit denen sie sich beschäftigt. Die spirituelle Suche wird vor allem in Form von Begegnungen Arletas mit verschiedenen Menschen beschrieben, die für sie zu "Ratgebern" oder "Wegweisern" werden. Obwohl diese Ratgeber spirituelle Lehren kennen, die für Arleta neu sind, oder spirituelles Bewußtsein erreicht haben, das Arleta selbst (noch) nicht erreicht hat, nimmt sie keinen dieser Menschen als Guru an, dessen Lehren sie sich vollständig verschreiben könnte. Einer der Ratgeber sagt zu ihr: "Ihr Lehrer ist in Ihnen selbst. Und Sie müssen ihn selber finden" - ein Rat, der in Einklang steht mit Arletas kritischem und selbständigen Charakter. Auch die Form der Zusammentreffen mit den "Ratgebern" spiegelt diese kritische Haltung wider. Meist findet ein Dialog oder eine Diskussion statt, bei der der "Ratgeber" bestimmte spirituelle Lehren erläutert oder ein Problem behandelt, das Arleta gerade beschäftigt, woraufhin Arleta und andere Anwesende Fragen stellen, manchmal auch Widerspruch einlegen. Spirituelle Suche findet also hauptsächlich durch einen Austausch mit Menschen statt, die zwar - zumindest auf bestimmten Bereichen - als "wissend" angesehen werden, keineswegs aber als "allwissend". Das bei diesen Zusammentreffen Besprochene wird von Arleta als Anregung wahrgenommen, sie reflektiert es und praktiziert es teilweise, betrachtet es jedoch nie als absolute Wahrheit. An einer Stelle drückt sie gar Verärgerung aus, weil sie die Aufforderungen eines "Ratgebers", bestimmte spirituelle Lehren zu praktizieren, als zu aufdringlich empfindet.
Gerade auch ihrer eigenen Religion gegenüber, dem Islam, zeigt Arleta eine kritische Haltung. Sie stellt Fragen zur Herkunft und zum Sinn bestimmter religiöser Vorschriften und überlegt zudem, ob die Religion in der heute praktizierten Form wirklich gut und sinnvoll ist. Als Folge ihrer kritischen Haltung muß sie sich bei ihrer Pilgerreise nach Mekka einige Male Ermahnungen wegen ihrer "unangemessenen" Fragen anhören, so daß sie sich schließlich enttäuscht fragt: "Ach, ist kritisches Denken eine Sünde? Ist es verboten?" ("Wahai, apakah berpikir kritis itu berdosa? Haramkah hukumnya?", 242)
Was den kritischen Umgang mit religiösen Lehren angeht, besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Memburu Kalacakra und Supernova, insbesondere der ersten Episode. Der Roman Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh besteht aus einer Rahmen- und einer Binnenerzählung, in dem Sinne, daß die Binnenerzählung von den beiden Figuren der Rahmenhandlung geschrieben wird. Diese Erzählstruktur ermöglicht es, die Binnenerzählung, eine klassische, eher simple Dreiecks-Liebesgeschichte, direkt mit Erklärungen über die "Aussagen" zu versehen, die die beiden Autoren mit dieser Geschichte machen wollen. Dabei handelt es sich um eine Art Lebensphilosophie bzw. eine Lehre, wie man nach Ansicht dieser beiden Figuren ein erfüllteres, besseres Leben führen könne. Diese Philosophie wird in Form von Diskussionen zwischen den beiden Figuren dargestellt, wobei sie auf verschiedene Theorien aus dem Bereich der Physik zu sprechen kommen, bevor sie ihre Ideen in Form der Binnenerzählung "populär verpacken, damit sie von der breiten Masse rezipiert werden können" ("kemasan yang populis supaya [...] bisa dibaca banyak orang", 10). Eine "überlegene" Lebensweise wird zudem von der Figur Divas alias Supernovas vertreten, der "spirituellen Lehrerin" (der verwendete Begriff ist "avatar"), die über das Internet aktiv wird, um Menschen "zur Einsicht zu bringen". Supernova/Diva wird als eine Art moderner "Übermensch" dargestellt, der andere in jeder Hinsicht übertrifft: Schönheit, Wissen, Bewußtsein.
Die Lehren, die Supernova über das Internet verbreitet, sind "für diejenigen gedacht, die LEBEN wollen" ("diperuntukkan bagi Anda yang ingin HIDUP"), heißt es in der Bekanntmachung auf der ersten Seite des Romans. Gemeint ist, daß Supernova zu lehren beabsichtigt, wie man eine höhere Bewußtseinsstufe erreichen, ein intensiveres Leben führen, und auf diese Weise letztendlich "sich SELBST finden" ("menemukan DIRI") könne. Die den Roman einleitenden Erklärungen Supernovas wirken ambivalent: "Ich bin kein Guru. Sie sind keine Schüler. Ich decke nur Fakten auf. [...] Hier gibt es nur ein Paradigma: GANZHEIT. Die Bewegung hat EIN Ziel: ein besseres Leben zu schaffen. Für uns. Für die Welt. Supernova ist kein Okkultismus. Keine religiöse Institution. Kein Philosophie-Kurs." ("Saya bukan Guru. Anda bukan Murid. Saya hanya pembeber fakta. [...] Hanya ada satu paradigma di sini: KEUTUHAN. Bergerak untuk SATU tujuan: menciptakan hidup yang lebih baik. Bagi kita. Bagi dunia. Supernova bukan okultisme. Bukan institusi religi. Bukan kursus filsafat", 1). Einerseits distanziert sie sich von einer belehrenden Rolle und von der Institutionalisierung bestimmter Dogmen, andererseits weist ein Satz wie "Ich decke nur Fakten auf" gerade auf eine äußerst autoritäre und dogmatische Haltung hin. Ist die Behauptung, die Lehren, um die es gehen wird, seien nicht Religion oder Philosophie sondern "Fakten", nicht eine bemerkenswerte Anmaßung? Und gibt sich Supernova nicht mit ihrer Erklärung, es gehe ihr darum, "ein besseres Leben zu schaffen" als eine Person aus, die besser als andere weiß, was "ein besseres Leben" ist und wie man es erreichen kann? Die autoritäre Haltung dieser "spirituellen Lehrerin" wird in dem folgenden Ausschnitt aus einer ihrer späteren "Internet-Lehrstücke" noch deutlicher: "Dieser Klassenraum ist ein Raum der Information, nicht der Diskussion. In unserem gemeinsamen Interesse möchte ich vermeiden, daß veraltete Informationen in Umlauf gesetzt werden, über die Sie nur miteinander herumdebattieren werden. Alle Fragen sind direkt an Supernova zu richten, und werden persönlich behandelt." ("Ruang kelas ini adalah ruang informasi, bukan ruang diskusi. Demi kepentingan bersama, saya menghindari berseliwerannya informasi usang yang hanya akan Anda perdebatkan satu sama lain. Semua pertanyaan harap langsung ditujukan kepada Supernova, dan akan dibahas secara pribadi", 196). Den Anhängern Supernovas, die sich gegenseitig kaum kennen können, da die Belehrungen über das Internet stattfinden, wird nicht die Gelegenheit gegeben, sich kennenzulernen und Meinungen auszutauschen, allein die Lehrerin hat das Recht, Erklärungen abzugeben. Der Roman Supernova handelt also von einer "einzig wahren" Lehre, überbracht von einer Frau, die "gewöhnlichen Menschen" überlegen, ja gar ein "Avatar" ist. Und es sieht ganz so aus, als sollten nicht nur die fiktiven Surfer, die ihre Lehrstücke im Internet lesen, von ihren Lehren überzeugt werden, sondern auch die Leser des Romans Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh. Nicht nur ist die erwähnte Bekanntmachung ganz am Anfang des Romans plaziert, noch vor dem Beginn der Rahmen- sowie der Binnenerzählung, so daß der Eindruck entsteht, daß auch der gesamte Roman als Wegweiser "für diejenigen, die LEBEN wollen" verstanden sein will. Auch scheinen die Gespräche zwischen den beiden Figuren der Rahmenhandlung, bei denen auf verschiedene wissenschaftliche Theorien verwiesen wird (inklusive der namentlichen Nennung von Wissenschaftlern, der Verwendung von Fachbegriffen usw.), dazu zu dienen, den Eindruck zu erwecken, die in dem Roman dargestellten Ideen beruhten auf harten "Fakten".
Eine Gemeinsamkeit der vier Romane ist, daß spirituelle/religiöse Erfahrung als etwas geschildert wird, das mit dem Alltagsleben eins ist, und zwar in einem etwas anderen als dem konventionellen Sinne. Mit konventionell meine ich: den normativen Lehren einer Religion entsprechend, etwa in Form einer Romanhandlung, in der eine Figur etwas tut, das als "Sünde" verstanden wird, dann ihre Tat bereut und "auf den rechten Weg" zurückkehrt. In den Romanen von Ani Sekarningsih, Clara Ng und Dee stellen die spirituellen Konzepte eher den Versuch dar, das Leben, insbesondere die persönlichen Erlebnisse der Figuren, zu begreifen, ohne dabei zu werten. In den Romanen (abgesehen von der zweiten Supernova-Episode) stellen jeweils die Liebesgeschichten der Figuren wichtige Elemente dar. Die Dreiecks-Liebesgeschichte in Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh ermöglicht dramatische Veränderungen im Bewußtsein der drei Beteiligten (eine Art Erleuchtung, der verwendete Begriff ist "Bifurkation"). In Tujuh Musim Setahun und Memburu Kalacakra werden die oft problematischen Liebesbeziehungen - von den Eltern nicht gebilligte Beziehungen, Betrug, Tod, vergangene Erlebnisse, die die Figuren nicht loslassen - mit Bezug auf philosophische, spirituelle und religiöse Lehren reflektiert, ihnen wird so Sinn gegeben.
Ein wichtiges Konzept in Tujuh Musim Setahun und Memburu Kalacakra ist das Konzept der "Zeit" (in Tujuh Musim Setahun großgeschrieben als "Waktu"): das Bewußtsein, daß sich alles im Fluß befindet, sich mit dem Lauf der Zeit ständig verändert, ohne daß der Mensch dies verhindern könnte. Das Konzept der "Zeit" in diesen beiden Romanen ist eng verbunden mit dem Gottesbild sowie mit Vorstellungen von "Karma" oder "Schicksal". Clara Ng ersetzt in dem Prolog ihres Romans die Worte Gottes "Und es werde Licht" aus der Schöpfungsgeschichte in der Bibel mit "Und es werde die Zeit" ("Jadilah Waktu") - durch den Fluß der Zeit zeigt Gott seine Präsenz im Leben der Menschen. Ein ganz ähnliches Konzept findet sich in Memburu Kalacakra, wie ganz besonders am letzten Satz des Romans deutlich wird: "Die Zeit ist Gottes Atem" ("Waktu adalah nafasNya").
Das Bewußtsein der Präsenz Gottes im Fluß der Zeit äußert sich in den Romanen von Clara Ng und Ani Sekarningsih unter anderem darin, daß Religiosität als etwas verstanden wird, das in jedem Moment des alltäglichen Lebens stattfindet. Arleta drückt gegen Ende des Romans die Erkenntnis aus, ein religiöses Leben sei nicht etwas, das von ihren alltäglichen Realitäten getrennt existiere. Es sei nicht in der Moschee oder im Gebet anzusiedeln, sondern in der Erfüllung ihrer alltäglichen Pflichten, der Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Kind, an ihrem Arbeitsplatz und dergleichen.
Das Konzept der "Zeit" kann mit dem Schicksalsbegriff (takdir) in Verbindung gebacht werden, da es um das Bewußtsein geht, daß Ereignisse geschehen, ohne daß sie sich verhindern lassen, als "solle es eben so sein". Dies bedeutet jedoch nicht, daß in Tujuh Musim Setahun und Memburu Kalacakra der Anschein hergestellt würde, als habe der Mensch nicht die Möglichkeit, sein eigenes Leben zu gestalten. Im Gegenteil, die Entscheidungen der Figuren sind außerordentlich bedeutsam für die Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen den Ereignissen. Ein interessanter Vergleich läßt sich zwischen diesem "Zeit"-Konzept und dem Begriff der Lebensaufgabe oder des Schicksals in dem Roman Supernova: Akar anstellen. Das Konzept der Lebens-"Aufgabe" (tugas) meint in diesem Roman die Überzeugung, der Mensch erhalte schicksalhaft eine "Aufgabe", die er in seinem Leben auf dieser Welt erfüllen müsse. Die Handlung des Romans legt gar nahe, diese Aufgabe sei in der Tat der einzige Lebenszweck des Menschen. Bemerkenswert ist dabei, daß die Erfüllung der im Roman dargestellten "Aufgabe" keinen erkennbaren Nutzen zu haben scheint. Ein Mann, Kell, verschwindet in der ägyptischen Wüste und wird später unbekleidet und mit 617 Tätowierungen versehen wiedergefunden. Er selbst weiß nicht (oder will, kann es nicht sagen), wie er zu diesen Tätowierungen gekommen ist, aber er weiß, daß er die "Aufgabe" hat, diese 617 Bilder an 617 Menschen, die er intuitiv als die richtigen erkennt, als Tätowierung weiterzugeben. Der 617. Auserwählte ist Bodhi, die Hauptfigur des Romans, und nachdem er die Tätowierung erhalten hat, bekommt auch Bodhi eine Aufgabe: Er soll eine weitere Tätowierung zu Kells bereits vorhandenen hinzufügen. Diese 618. Tätowierung wird das Gesamtbild auf Kells Körper vervollständigen, und da Kells Aufgabe auf Erden somit vollendet sein wird, wird er danach sterben. Da Kell noch leben möchte, meidet er Bodhi, doch das Schicksal führt sie wieder zusammen. Schließlich erhält Kell die Tätowierung in schwer verletztem Zustand, nachdem er auf eine Landmine getreten ist - erst danach kann er sterben. Erstaunlich ist bei dieser Geschichte nicht nur, wie extrem fatalistisch das Schicksalskonzept hier ist - die Menschen scheinen nicht die geringste Wahl zu haben -, sondern auch, daß die "Aufgaben" der Menschen als völlig undurchschaubare Geheimnisse dargestellt werden. Es bleibt vollends unklar, wo die Tätowierungen herkommen, warum ihre Anzahl 617 ist, und was für einen Sinn es haben soll, sie an andere Menschen weiterzugeben. In Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh wird als das Ziel der Bewegung Supernovas als "Schaffung eines besseren Lebens" genannt - doch in welcher Hinsicht wird durch die Tätowierungen etwas verbessert? Vielleicht müssen wir auf die nächste Episode warten, um dies zu erfahren.

Die vier Romane, die ich hier besprochen habe, stellen Religiosität/Spiritualität in einer neuen, individuellen Form dar, d.h. die behandeln spirituellen Konzepte entsprechen nicht den Normen einer der vier in Indonesien anerkannten Religionen. Diese Romane bringen das Bedürfnis nach einer Form der Spiritualität zu Ausdruck, die der heutigen Zeit und den persönlichen Wünschen und Neigungen des einzelnen angepaßt ist. Zudem wird in den vier Romanen Religiosität/Spiritualität vor allem als seelische Erfahrung verstanden, und sowohl die sich auf der spirituellen Suche befindliche Arleta als auch die spirituelle Lehrerin Diva/Supernova betonten die Entwicklung von Bewußtheit oder seelischer Haltung als ihr Hauptziel. Dieses Element läßt sich verstehen als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der in der Gesellschaft dominanten Tendenz, eher äußerliche Formen Religiosität als wichtig zu erachten und den äußeren Schein als "das Eigentliche" mißzuverstehen (z.B. indem jemand als "gläubig" angesehen wird, wenn er/sie regelmäßig betet, jeden Freitag die Moschee besucht, ein Kopftuch trägt usw.)
Trotz dieser Ähnlichkeiten zwischen den vier Romanen, lassen sich zwei sehr unterschiedliche Arten der Spiritualität ausmachen. Die Hauptmerkmale von Arletas Spiritualität in Memburu Kalacakra, die ich oben bereits besprochen habe - das Verständnis von spiritueller Erfahrung als Privatangelegenheit, Offenheit für eine Vielzahl von Lehren, eine kritische Haltung gegenüber den erhaltenen Unterweisungen, und eine Einheit von Religiosität und Alltagsleben - sind in Grundzügen auch in Tujuh Musim Setahun zu finden (werden aber weniger explizit gemacht), größtenteils aber nicht in den beiden Romanen von Dee. Die autoritäre Haltung Supernovas in der ersten Episode steht im Gegensatz zu der kritischen Haltung in Memburu Kalacakra, und ihr Auftreten als eine um die "eigentliche Wahrheit" Wissende läßt sich nicht mit Toleranz und Offenheit anderen Lebensphilosophien gegenüber in Einklang bringen. Auch die zweite Episode Supernovas präsentiert ein unflexibles Konzept der Lebensführung, wo alles nach einem sonderbar anmutenden großen Plan abläuft. Anders als Arleta, die zwar gelegentlich übernatürliche Erlebnisse hat, aber dennoch bei ihrer spirituellen Suche immer ihren Verstand gebraucht, scheint Bodhi vollständig seinen Intuitionen zu folgen, was so weit geht, daß er sogar nur durch den Gebrauch seines Körpergefühls Landminen lokalisieren kann. Hinzu kommt, daß die Erfüllung von Bodhis und Kells "Aufgaben" zwar eine Einheit mit ihren Alltagsleben bildet bzw. gar ihr (einziges?) Lebensziel darstellt, ihre Erlebnisse aber sehr weit entfernt vom Alltag der meisten Leser sind. Ohne jegliche Verpflichtung oder Bindung, abgesehen von ihren großen "Aufgaben", reisen sie in einer Reihe von asiatischen Ländern herum - sehr anders als Arleta und die Figuren in Tujuh Musim Setahun, die durch Verantwortlichkeiten gegenüber ihren Familien, an ihren Arbeitsstellen usw. gebunden sind.
Wenn man diese beiden Arten von Spiritualität als eine Art "Angebot" an die Leser versteht - natürlich ohne dabei zu vergessen, daß es sich um literarische Texte handelt, und nicht um Traktate, die bestimmte spirituelle Lehren anpreisen (obwohl man einräumen muß, daß in der ersten Episode von Supernova eine besondere "Einladung" an den Leser stattfindet, die dargestellten Lehren zu übernehmen) - erscheinen die autoritäre Haltung und der Fatalismus in den beiden Supernova-Episoden besorgniserregend, zumindest meiner Ansicht nach.

Wenn man "religiöse Literatur" mit Goenawan Mohamad als Literatur versteht, in der "religiöses Leben als Problemlösung" dargestellt wird, lassen sich die vier hier besprochenen Romane nicht ohne Vorbehalt in eine solche Definition fügen. In Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh werden die Lehren Supernovas zwar als Problemlösung für die in die Dreiecksbeziehung verwickelten Figuren der Binnenerzählung verstanden, aber Supernovas eigener Definition zufolge sind diese Lehren keine Religion. Und in den Romanen von Clara Ng und Ani Sekarningsih wird Religion nicht als "Problemlösung" dargestellt, da die Probleme vom Leben selbst bzw. vom Fluß der Zeit gelöst werden. Religiosität ist hier weniger ein Mittel, Probleme zu lösen, als eine Überzeugung oder Bewußtheit über die Natur des Lebens. Im Fall der außerehelichen Liebesbeziehung in Tujuh Musim Setahun, die ich oben erwähnt habe, kann das Konzept, die Liebe zu einem verheirateten Mann sei eine "Sünde", das Problem nicht lösen, der Lauf der Zeit aber löst es, indem er der Verliebten schließlich die Einsicht ermöglicht, daß die Gefühle ihres Geliebten nicht aufrichtig sind.
Vor allem in Memburu Kalacakra spielen Religion und Spiritualität eine große Rolle, aber es geht nicht darum, wie durch Religion Probleme des Lebens gelöst werden können, sondern es steht die Frage im Vordergrund, welche Rolle die Religion im Leben des einzelnen einnehmen sollte. Die Antwort ist deutlich: Religiosität ist das Gefühl für "Gottes Atem" im Alltag, also eine sehr persönliche Angelegenheit. Wegen dieses persönlichen Charakters hat jeder das Recht, Lehren anzunehmen, zu hinterfragen, abzulehnen, oder nach Bedarf zu kombinieren, inklusive der Lehren seiner eigenen sowie anderer Religionen.



Verwendete Literatur

Ani Sekarningsih, Memburu Kalacakra, Yogyakarta 2004.

Clara Ng, Tujuh Musim Setahun. Jakarta 2002.

Dee, Supernova: Ksatria, Puteri dan Bintang Jatuh. Bandung 2001.
- Supernova: Akar. Bandung 2002.

Goenawan Mohamad, "Posisi Sastra Keagamaan Kita Dewasa Ini", in: Satyagraha Hoerip (Hg.), Sejumlah Masalah Sastra, 2. Aufl., Jakarta 1982, S. 137-146. (zuerst veröffentlicht in Horison, Juli 1966.)

Jedamski, Doris. Die Institution Literatur und der Prozess ihrer Kolonisation: Entstehung, Entwicklung und Arbeitsweise des Kantoor voor de Volkslectuur-Balai Pustaka in Niederländisch-Indien zu Beginn dieses Jahrhunderts. Münster und Hamburg 1992.

Marah Rusli. Sitti Nurbaya. Kasih Tak Sampai. Jakarta 1922.